Etwa 20 Studierende haben seit 1981 ihre Uni verklagt, um ihr Recht auf Gewissensfreiheit im Praktikum durchzusetzen – mit unterschiedlichem Ausgang. Exemplarisch sei an dieser Stelle der neun Jahre dauernde Prozess von Anya F. dokumentiert, der die Lehramts-Biologiestudentin bis vor das Bundesverfassungsgericht führte.
Die Studentin Anya F. studierte an der Universität Karlsruhe Biologie. Sie sollte dank hervorragender Noten längst als Biologielehrerin an Gymnasien arbeiten. Ganz besonders geeignet wäre sie für das Lehramt, denn der Lehrplan schreibt vor, die Schüler zur „Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben“ zu erziehen. Anya F. lehnt Tierversuche und Tiertötungen zur bloßen Wissensvermittlung konsequent ab, denn das Töten von „Mitgeschöpfen“ (so §1 Tierschutzgesetz) steht zweifelsohne im Gegensatz zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ (so Albert Schweitzer).
Die folgenden Beiträge wurden zu den Zeitpunkten der jeweiligen Urteile geschrieben.
Durch alle Instanzen (von Anya F., Red. bearb.)
Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Juni 1997 (BVerwG 6 C 5.96; 1 BvR 1834/97)
Im Juni 1997 war das Urteil in der dritten und höchsten verwaltungsgerichtlichen Instanz nach dem über sechs Jahre dauernden Gerichtsprozess gefallen. Anya F. hatte die Universität Karlsruhe darauf verklagt, die für die Zulassung zur ersten Staatsexamensprüfung für das Biologie-Lehramt an Gymnasien erforderlichen Leistungsnachweise auch dann auszustellen, wenn sie im Hauptstudium nicht an Tierversuchen oder Versuchen an zuvor getöteten Tieren oder Teilen von ihnen teilnimmt. Dabei hatte sie sich auf das Tierschutzgesetz, auf die persönliche Gewissensfreiheit und darauf berufen, dass sie als Lehrerin niemals Tierversuche o.ä. durchführen müsse. Der baden-württembergische Lehrplan für Schulen fordert im Gegenteil eine Erziehung zur „Ehrfurcht vor dem Leben“, zum „artgerechten Behandeln“ von Tieren und ein Heranführen der Schüler an ein „ganzheitliches Erfassen von Tieren und Pflanzen in ihrem natürlichen Lebensraum“. Der Tierverbrauch im Studium steht dazu diametral in Gegensatz.
Doch gab der Bundesverwaltungsgerichtshof in Berlin beiden vorigen Instanzen (dem Verwaltungsgericht Karlsruhe und dem Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshof Mannheim) „im Ergebnis“ Recht. Die Klage wurde abgewiesen. Der ‚Kern‘ der Urteilsbegründung war in allen drei Instanzen ein anderer:
1. Instanz (Verwaltungsgericht Karlsruhe):
Grundrechte können eingeschränkt werden, wenn ihre Verwirklichung staatsgefährdend ist. Wenn zugelassen würde, dass sie in Einklang mit ihrem Gewissen studiere, dann wäre damit „das überragende Gemeinschaftsgut der Versorgung der Bevölkerung mit guten Biologielehrern“ gefährdet. Denn die Universitätsdozenten hätten in der mündlichen Verhandlung „überzeugend dargelegt“, dass man in einer ordentlichen Biologielehrerausbildung auf Tierversuche (bzw. Tötungen) nicht verzichten könne. Also dürfe – und müsse – ihre Gewissensfreiheit hier eingeschränkt werden.
Hintergrund: Erstens hatten sich die Dozenten in der mündlichen Verhandlung sich kaum bemüht, überhaupt etwas darzulegen (und keiner der anderen Zuhörer fand sie in irgendeiner Weise „überzeugend“). Zweitens meinte das Gericht zu wissen, dass sie als Biologielehrerin nicht geeignet wäre. In Zusammenhang mit dem Hinweis auf die konkreten, tierfreundlichen Ziele des Lehrplans, behauptet es an anderer Stelle, es sei „nicht relevant“, welche Anforderungen tatsächlich an eine Lehrerin gestellt werden würden.
2. Instanz (Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshof Mannheim);
Es sollte abgewogen werden, ob die Lehrfreiheit der Dozenten stärker eingeschränkt wird, wenn sie nicht an den betreffenden ‚Übungen‘ teilnimmt, oder ob ihre Gewissensfreiheit stärker eingeschränkt würde, wenn sie zur Teilnahme an diesen ‚Übungen‘ gezwungen wird.
Das Ergebnis dieser Abwägung: Die Lehrfreiheit würde viel stärker eingeschränkt als ihre Gewissensfreiheit, denn ein geregeltes Studium sei durch die Freistellung einer Studentin von den betreffenden Versuchen freistellte, generell nicht mehr möglich.
Ihre Gewissensfreiheit hingegen wird durch den Zwang zur Beteiligung am „Tierverbrauch“ nur sehr geringfügig beeinträchtigt, denn sie sei schließlich auch dazu bereit, Lehrfilme anzuschauen, für die Tiere getötet worden sind. Zwischen dem Anschauen solcher Filme und der eigenhändigen Durchführung der Versuche bestehe „nur ein quantitativer Unterschied“. Also müsse man hier zugunsten der Lehrfreiheit und gegen die Gewissensfreiheit entscheiden.
Hintergrund: Sie hatte in der mündlichen Verhandlung betont, dass sie nicht möchte, dass eigens für sie Lehrfilme hergestellt werden, für die Tiere gequält oder getötet werden. Wo aber Lehrfilme bereits existierten, sollten sie auch verwendet werden, damit im Praktikum nicht wieder Tiere eingesetzt werden.
3. Instanz (Berliner Bundesverwaltungsgerichts):
Erstmals hieß es, die Dozenten müssten ihre Ablehnung von Alternativmethoden auch rational nachvollziehbar begründen, eine bloße Behauptung der Notwendigkeit von Tierversuchen unter Berufung auf ihre Autorität als „Experten“ und auf ihre Lehrfreiheit reiche hier nicht aus. Allerdings wurde die Beweislast nun umgekehrt: Der Studierende habe für jeden einzelnen Versuch eine ganz „konkrete“ Alternative vorzuschlagen sowie anzugeben, wo diese bereits eingesetzt würde und welche Erfahrungen dort mit ihr gemacht worden seien. Könnte der Professor sein Beharren auf dem betreffenden Tierversuch bzw. dem Töten dann nicht überzeugend begründen, so würde der Student in einem Prozess wohl Recht bekommen.
Sie war demnach ihrer „Darlegungslast“ nicht in ausreichendem Maße nachgekommen, weil sie „nur pauschal“ Selbstversuche, Filme, Computersimulationen und das Verwenden von natürlich gestorbenen, verunfallten oder wegen unheilbarer Leiden eingeschläferter Tiere als Alternativen genannt hätte. Das sei zu wenig „konkret“ und „detailliert“ gewesen.
Hintergrund: Stets hatten die Professoren betont, man könne auf keinen einzigen ihrer Versuche verzichten. Sie hatte diese Behauptung durch einige Gegenbeispiele, also exemplarisch, widerlegt. In keiner der Verhandlungen hatte die Richter nach Alternativen für jeden einzelnen Versuch gefragt, sie waren an Details überhaupt nicht interessiert.
Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht
Daraufhin hatte sie am 18. September 1997 in Karlsruhe Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Gerügt wurde die Verletzung der Grundrechte (Gewissensfreiheit und Lernfreiheit). Zudem wurde darauf hingewiesen, dass auch die Frage, ob der Tierschutz verfassungsrechtlich relevant sei, nicht so eindeutig mit „nein“ zu beantworten ist, wie die Verwaltungsgerichte es getan hatten [Red.: der Tierschutz genießt erst seit 2002 Verfassungsrang]. Es wurde auch betont, dass sich die Klage nicht gegen einzelne Hochschullehrer, sondern gegen die Universität gerichtet hatte, und dass diese als Institution nicht das Grundrecht der Lehrfreiheit für sich geltend machen kann. Sämtliche Einwände gegen das Urteil des Berliner Bundesverwaltungsgerichts wiederzugeben, würde hier zuviel Platz beanspruchen. Nur einige Passagen aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde seien noch zitiert:
„Das Verständnis der Lehrfreiheit ist mit der Grundpflicht des Hochschullehrers gekoppelt, jeden Studierenden auch als individuelles Gegenüber mit dem Recht auf eigene sittliche und wissenschaftliche Überzeugung zu sehen und zu achten. Der kritisch Mitdenkende und die Methoden eines Professors hinterfragende Student ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung des freien und fruchtbaren wissenschaftlichen Prozesses. […]
Aus dem Selbstbestimmungsrecht von Studierenden folgt, dass sie sich mit einer (angeblich) schlechteren Lehrform [gemeint sind alternative Methoden] begnügen dürfen. Es ist ihr Risiko, wenn sie deshalb die Prüfung nicht bestehen. Es steht dem Professor nicht zu, Studenten aus ‚Fürsorge‘ die Lehrmethode des Experiments und der Tötung sensitiver Lebewesen aufzuzwingen. […]
Aus der Sicht der Betroffenen ist es eine realitätsferne Überforderung der Studierenden, ihnen eine solche Darlegungslast aufzubürden, dass sie für jeden einzelnen Versuch darauf bezogene Alternativen ohne Tiertötung und Tierverbrauch nachweisen sollen. Da es sich um die Vermittlung schon bekannten Wissens, nicht etwa um Fragen der Forschung handelt, kann jeder einzelne Versuch bereits durch ein anschauliches Lehrbuch ersetzt werden. […]
Es kann nicht Sache der Studierenden sein, den Hochschullehrer über die Möglichkeiten tierverbrauchsfreier Praktika zu unterrichten. Der Hochschullehrer muss diese Möglichkeiten selbst kennen und, sofern er selbst an Tierversuchen und Tiertötungen zur Vermittlung von Erkenntnissen festhalten will, den Studierenden zumindest die Möglichkeit offen halten, ihr Wissen ohne die Verletzung ihrer Gewissensentscheidung zu erwerben. […]
Das Recht des Hochschullehrers, seine Lehre nach Form, Methode und Inhalt frei zu gestalten, umfasst – auch historisch gesehen – keineswegs das Recht, andere auf die Teilnahme an der betreffenden Lehrveranstaltung zu verpflichten. […]“
Beschwerde zurückgewiesen
SATIS-Presseerklärung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. April 2000
Gestern hat das Bundesverfassungsgericht bekannt gegeben, dass es die Verfassungsbeschwerde der Karlsruher Biologiestudentin Anya F., die sich aus Gewissensgründen geweigert hatte, im Studium an Tierversuchen zu Demonstrationszwecken teilzunehmen, nicht annimmt. In der Begründung der Abweisung behauptet das Bundesverfassungsgericht, nach Auskunft der Landesregierungen seien Gewissenskonflikte von Studierenden im Hinblick auf die Beteiligung an Tierversuchen „nur vereinzelt oder nicht bekannt“. Deshalb bestehe kein „deutlich über den Einzelfall hinausgehendes praktisches Klärungsinteresse“.
Der Bundesverband SATIS weist hingegen darauf hin, dass die meisten seiner über 200 Mitglieder wie die Klägerin sich durch Tierversuche im Studium in größte Gewissenskonflikte gedrängt sehen. Zusätzlich erreichen ihn ständig Anfragen betroffener Studierender. Der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes ist daher entschieden zu widersprechen.
Auch wird in der Begründung des Bundesverfassungsgerichtes behauptet, dass von der Studentin angegriffene Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes stelle bereits klar, dass Hochschullehrer sich mit konkreten Alternativvorschlägen, die von Studierenden vorgetragen würden, auseinandersetzen müssten. Dies lasse „für die Zukunft erwarten, dass im Streitfall Lösungen gefunden werden, die den Anforderungen eines möglichst schonenden Ausgleichs der widerstreitenden Grundrechtspositionen [Lehrfreiheit und Gewissensfreiheit] gerecht werden“.
Das Bundesverfassungsgericht ignoriert damit völlig die Bedenken, die in der Begründung der Verfassungsbeschwerde vorgetragen wurden: Es kann einem Studienanfänger nicht zugemutet werden, seine Professoren in allen Einzelheiten über die bestehenden Alternativmethoden aufzuklären. Grundsätzlich sowie auch exemplarisch hatte die Biologiestudentin durchaus dargelegt, auf welche Weise man die Tierversuche in der Ausbildung ersetzen kann. Bürdet man ihr aber die gesamte Darlegungslast auf, verlangt man von Vornherein Unmögliches – so kann eine ernsthafte Berücksichtigung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit nicht aussehen.
Ferner wurde behauptet, die Studentin hätte den größten Teil ihrer „Belastungen“ durch einen „Wechsel der Universität“ vermeiden können. Dem Gericht war jedoch bekannt, dass ein tierversuchsfreies Biologiestudium für das Lehramt an Gymnasien, welches Anya F. anstrebte, nur an Universitäten außerhalb Baden-Württembergs möglich ist, dass aber die in anderen Bundesländer erbrachten Examensleistungen nicht notwendigerweise bei der Bewerbung um eine Stelle als Lehrerin in Baden-Württemberg anerkannt werden. Folglich lag es keineswegs an einem Mangel an „nachdrücklichem Bemühen“, dass die Studentin einem massiven Gewissenskonflikt ausgesetzt war und deshalb einen nun acht Jahre dauernden Kampf durch die Gerichtsinstanzen auszufechten hatte.
Der Bundesverband SATIS weist mit Nachdruck darauf hin, dass das Thema Tierversuche im Studium höchste Aktualität besitzt und zahlreiche begabte und ethisch verantwortliche Abiturienten von einem Studium von der ‚Lehre des Lebens‘ abgeschreckt werden. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, an dessen Lösung breites öffentliches Interesse besteht und bei dem eine verfassungsrechtliche Klärung, die das Bundesverfassungsgericht mit dem genannten Beschluss abgelehnt hat, nach wie vor dringend erforderlich ist.